Vetrauensfrage
„Ich bin noch mal kurz draußen.“
Sie schließt die Tür zu meinem Zimmer so schnell, wie sie sie
geöffnet hat. Ich reagiere nicht sofort. Wie oft ging sie am frühen
Abend nochmal raus an die frische Luft, besonders seitdem die Sonne
länger draußen war. Doch irgendwie hat ihre Stimme einen Nachklang,
der mir keine Ruhe lässt. Ich ziehe mir mein Hemd über und gehe
hinaus, durch den Garten, den Hügel hoch und finde sie dort, auf der
alten Bank sitzend, die Knie an die Brust gezogen. Ich weiß, dass
sie mich bemerkt hat, auch wenn sie keinerlei Reaktion zeigt.
Deswegen bleibe ich unentschlossen neben ihr stehen. „Ist gar nicht
so warm wie ich dachte“, sage ich und verschränke die Arme vor der
Brust. Keine Reaktion. „Was ist los.“ Das ist eher eine
Aufforderung, als eine Frage. Sie lässt ihren Kopf in den Nacken
fallen, ihre Augen sind geschlossen. Ich mich setze doch neben sie. „Mein
Kopf ist so voll. Ich wollte einfach ein bisschen Ruhe haben, weil
ich nicht weiß, was ich denken soll und gleichzeitig Milliarden
Gedanken im Kopf habe.“ „Geht es wieder um ihn?“, frage ich
besonders desinteressiert. Er war in den letzten Wochen
Gesprächsthema Nummer Eins gewesen und Grund für Tränen und Wut,
Diskussion und Ratlosigkeit. Ich habe keine Lust, schon wieder über
ihn zu reden. Doch sie zieht ihre Augenbrauen ablehnend zusammen und
verzieht ihren Mund, als sein meine Vermutung das absolut
Unwahrscheinlichste, was sich je ein Mensch ausdenken könnte. „Nein.
Ausnahmsweise geht es mal um mich.“, verkündet sie, als sei es in
den tausend Gesprächen der letzten Wochen sonst immer nur um mich
gegangen. „Und was denkst du über dich?“, frage ich. Ich habe
mir angewöhnt, auf jegliche emotionalen und gehässigen Anspielungen
nicht mehr zu reagieren um schneller auf den Kern zu kommen. Sie
schweigt für einen Moment, umklammert ihre Beine und lässt ihren
Blick über die Felder streichen, die sich vor uns erstrecken.
Vermutlich wiegt sie ab, ob sie ihre Gedanken wirklich preisgeben
kann, ohne für verrückt erklärt zu werden. Sie sieht mich nicht
an als sie schließlich traut: „Ich kann mir nicht mehr vertrauen.“
Ich kratze mich am Kopf. Was für eine Erkenntnis. „Warum das?“,
frage ich zurück. Wieder schüttelt sie den Kopf, als sei die
Antwort auf meine Frage für alle Welt ersichtlich. „Bei allem was
ich tue, alles, was ich entscheide, was ich denke und fühle,
verlasse ich mich auf mein gutes Gefühl. Gutes Gefühl ist gleich
richtiger Weg. Aber schau dir doch an, wo ich gelandet bin! Wie soll
ich mich je wieder auf mein scheinbar gutes Gefühl verlassen, wenn
dabei nur sowas raus kommt!“ Bei den letzten Worten stößt sie
ihre Beine vom Körper ab und lässt sie auf den Boden fallen. Ihr
Frust sprüht aus jeder Körperzelle. „Ich bin wie gelähmt, ich
kann mich für nichts mehr entscheiden, ich kann keinen neuen Weg
einschlagen, ich kann nichts machen! Denn entweder habe ich kein
Gefühl oder ein gutes und beide bringen mich nicht weiter. Wie oft
hat mein gutes Gefühl mich in letzter Zeit in eine Sackgasse
gebracht.“ Es ging bestimmt auch um IHN, aber ich spare mir den
Hinweis. Vielleicht ist ER auch nur der Auslöser dieser
weitgreifenden Erkenntnis. Sie sieht mich flehentlich an. „Wie soll
ich leben, wenn ich mir selbst nicht mehr vertraue?“ Sie sieht so
klein aus, so verletzt, so enttäuscht von sich selbst. Ich will sie
in den Arm nehmen, aber riskiere es doch nicht. „Du hast mich. Mir
kannst du vertrauen.“, sage ich leise. Sie verdreht die Augen. Gut
dass ich ihr nicht näher gekommen bin. „Ich weiß.“, sagt sie,
als zähle ich nicht. „Aber ich muss mir selbst vertrauen können,
verstehst du das nicht? Ich kann doch nicht nur durch dich leben. Ich
muss doch auch selbst entscheiden können und mir meiner sicher
sein... Und das bin ich nicht mehr.“ Ich verschränke die Arme
wieder dicht vor meiner Brust. „Und was willst du dagegen tun?“
Sie schüttelt nur traurig den Kopf. „Das weiß ich noch nicht.“
Ich versuche es noch einmal: „Vielleicht brauchst du für dein
Leben gar kein gutes Gefühl. Vielleicht kannst du auch so leben.“
Sie reagiert nicht. Entweder weil es Quatsch ist, was ich sage, oder
weil sie darüber nachdenkt. Wir schweigen beide für einen Moment.
„Vertraust du dir?“, fragt sie dann leise. „Klar.“, antworte
ich ohne länger darüber nachdenken zu müssen. Sie sieht mich
forschend an. „Und was machst du, wenn du dich für etwas
entscheidest und es eine Sackgasse ist?“ „Dann zucke ich mit den
Achseln und gehe zurück.“ „Und du zweifelst nicht an dir
selbst?“ Sie sieht mich an, als wäre ich ihr noch nie begegnet.
„Wozu? Das bringt mich auch nicht weiter.“ Sie lächelt. Endlich.
Und schüttelt amüsiert den Kopf, als seien meine Worte wieder mal
total abwegig. Aber sie lächelt. Also wird sie darüber nachdenken.
Kommentare
1. Wie sehr man sich doch selbst verletzen kann.
2. Wie einfach manches ist, wenn man es aus aus einem anderen Blickwinkel, einem Blickwinkel ohne Verletzung, sehen kann.
Gut, wenn man jemanden hat, der einem dabei hilft!