Abstand gewinnen.

Jahrelang habe ich Tagebuch geschrieben. Weil ich bekanntermaßen gerne schreibe und manche Lebensmomente gerne festhalte und manchmal einfach „mein Hirn freischreiben muss“. Gerne passiert das aus der akuten Situation heraus.

Liebes Tagebuch. Heute ist alles Scheiße.
Liebes Tagebuch. Heute ist alles toll.
Liebes Tagebuch. Ich bin müde.
Liebes Tagebuch. Ich kann nicht schlafen.

Ich schreibe dann quasi „im Affekt“ - also aus der Situation heraus. Ich gebe dem akuten Gefühl, dass mein Herz scheinbar übermannt, Raum auf dem Papier, vor allem damit es nicht mehr so viel Platz in mir drin einnimmt. Dieser Weg ist aber nicht gut durchdacht. Denn zum einen schreibe ich nicht ALLES auf, also nicht aus jeder Emotion. Besonders schöne Momente will ich nicht „an das Papier verschwenden“ sondern in meinem Herzen festhalten, besonders blöde Momente schreibe ich auch nicht auf, weil ich mich ja nicht für immer an diese oder jene vielleicht peinliche Situation erinnern will. Zum anderen ist das Gefühl nach dem Aufschreiben nicht besonders. Keine Erleichterung. Kein Umdenken. Es bringt mich nicht weiter. Im Gegenteil:
Ich habe beobachtet, dass ich weniger Tagebuch geschrieben habe, weil mir dieses Buch zu einer Müllhalde meiner nervigsten Emotionen wurde.

Vor einiger Zeit habe ich eine Lösung gefunden: Ich schreibe nicht mehr über das Heute, nur noch über das Gestern!

Liebes Tagebuch. Gestern war ein anstrengender Tag.
Liebes Tagebuch. Gesten war ein schöner Tag.
Liebes Tagebuch. Gestern war mein Kopf voll Gedanken über...

Es ist eine Reflexion. Versuch dich jetzt mal an das zu erinnern, was du gestern Nachmittag gegen 15:30Uhr gemacht und gedacht hast. Das kann man kaum mehr so genau nachvollziehen.
Und wie war deine Stimmung gestern Abend? Man behält viel mehr einen Gesamteindruck.
Mit etwas Abstand ist gar nicht mehr alles scheiße, sondern vielleicht nur eine Situation, die einem nicht geschmeckt hat. Die wilden Emotionen sind nicht mehr präsent, sondern der ruhige Kern wird sichtbar.

Dafür sind zwei Sachen nötig: Ruhe und ein bisschen zeitlicher Abstand. Mancher Pups, der einem an einen Tag zu quer sitzt, ist am nächsten Tag schon wieder vergessen. Und anderes ist dafür wesentlich wichtiger, was vielleicht in der erlebten Situation noch gar nicht zu fassen war.

Bei manchem denke ich mir inzwischen „Oh, ich freue mich das morgen in mein Tagebuch zu schreiben!“ Das geschieht dann nicht immer, weil es am nächsten Tag gar nicht mehr so wichtig ist. Und manchmal ist es genau das, was sich festzuhalten lohnt.
Und die ganzen alltäglichen Querelen bekommen nicht mehr so viel Aufmerksamkeit und sind deswegen auch (manchmal) weniger nervig. Reflexion, das tut gut!




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