Die Fülle des Lebens.
In
den letzten Wochen leben ein paar Kontakte wieder auf, die längere
Zeit brach lagen. Menschen, die ich aus den Augen verloren hatte,
weil man zu irgendeinem Zeitpunkt nicht mehr auf eine Mail
geantwortet hatte und das Leben dann einfach weitergelaufen war. Denn
das macht es, das Leben, es läuft weiter, auch wenn Menschen, die
uns noch so wichtig waren oder sind, in andere Richtungen gehen und
nicht mehr neben uns sind. Das mag manchmal brutal schmerzhaft sein,
aber irgendwann wird es besser und man gewöhnt sich an den Zustand
der Abwesenheit.
Umso
besonderer finde ich es, wenn Kontakte wieder aufleben, Bänder neu
geknüpft werden, alte Freundschaften dadurch vielleicht eine ganz
neue Ebene erreichen, weil die Zeit der Abwesenheit Veränderung,
Neuanfänge, Abschlüsse und manchmal auch Heilung schenkt.
Doch
eines überfordert mich bei diesen neuem Aufleben der Kontakte: Der
Versuch, die Zeit der Abwesenheit zu rekonstruieren und dem Gegenüber
nahe zu bringen. Eben diese ganzen unterschiedlichen Veränderungen
dem anderen nahezubringen, um ihn daran nachwirkend teilhaben zu
lassen oder auch um zu erklären, warum Dinge jetzt sind, wie sie
sind. Keine Rechtfertigung, aber der Versuch einer Erklärung. Und wie
ich das so versuche, bemerke ich die Fülle meines erst
fünfundzwanzig Jahre alten Lebens. Wahrscheinlich hatte meine
Schwester recht, als sie mir damals, als sie so alt war wie ich
jetzt, sagte, die „Anfang zwanziger Jahre“ bringen so viel
Veränderung, innerlich und äußerlich, sichtbarer und unfassbarer
Art. Im „jugendlichen Leichtsinn“ habe ich mir damals gedacht,
dass ich mit noch nicht mal zwanzig schon so viel Veränderung
durchgemacht hatte, was sollte da noch passieren. Und heute kann ich
nur den Kopf schütteln und sagen: Das Leben ist eine ständige
Veränderung, innerlich und äußerlich. Und diese Veränderungen
kann ich mir selbst alle kaum vor Augen führen. Wie sollte ich dazu
in der Lage sein, sie jemanden, der mit mir vor ein paar Jahren das
letzte Mal in Kontakt war, nahezubringen, in all ihrer Tiefe und
Bedeutungsschwere?
Deswegen
reduziert man wohl sein Leben oft auf die äußeren, sichtbaren
Veränderung: Studium, Abschluss, Hochzeit, Haus, Kind. Dabei finde
ich das, was dazwischen passiert, was uns zu solchen Veränderungen
bringt und motiviert, was uns daran gefällt und was uns daran Angst
macht, viel spannender als der Umstand, dass sie einem widerfahren
sind, ob nun gewollt oder vom Leben hinzugefügt. Sicherlich liegt
das auch an mir und meiner Weltsicht und das ich mit dem
offensichtlichen so ungern zufrieden gebe. Und trotzdem merke ich: Es
ist so viel, dass passt in keine Mail und auch jedes persönliche
Gespräch könnte das nicht fassen. Niemand, ja wirklich kein Mensch,
kann die Fülle meines Lebens jemals nachempfinden, weder in den
sachlichen Umständen und schon gar nicht emotional. Und die gleich
Erkenntnis gilt über mein Gegenüber: Alles, was ich an Worten und
Bildern in mir aufnehme ist nur ein unsagbarer Bruchteil dessen, was
die andere Person erlebt hat. Ich kann mir nicht anmaßen, zu
verstehen, ich kann nur staunen und dankbar sein, für dass, was ich
aufnehmen kann.
Unsere
Leben sind so gefüllt mit Leben und das auf so unfassbar
unterschiedliche Weise. Das macht mich, trotz der ganzen Worte hier,
sprachlos. Selbst wenn wir an manchen Tagen das Gefühl haben, in den
letzten Wochen, Monaten, vielleicht sogar Jahren, sei eigentlich
nicht viel passiert – es passiert trotzdem. In uns, um uns herum.
Es macht mich still, ja es schüchtert mich fast ein, bei dem
Gedanken daran wie groß dieser Komplex „Leben“ ist. Und es macht
mich dankbar, dankbar, wie viel passiert, was ich nicht mehr in Worte
fassen kann, was ich nicht mehr rekonstruieren kann, was einfach
passiert, weil es soll, muss oder kann - ohne, dass es jemals jemand
nochmal wiedergeben muss. Und gleichzeitig bin ich dankbar für
alles, woran ich mich erinnere, was einen Platz in Herz und
Gedächtnis gefunden hat und hoffentlich lange bleiben wird. Nicht
nur schönes, aber eben das Leben, das ich leben darf.
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