Gedanken zur Winterzeit

Es war kalt geworden in den letzten Tagen. Es hatte sogar geschneit, viel mehr als in den Jahren zuvor. Eine pulvrige, glitzernde Decke lag auf den Wiesen und Bürgerstiege. Die Äste der Bäume beugten sich unter der Last der weißen Pracht und in der Dunkelheit verbreiteten die beleuchteten Fensterhöhlen der Häuser die Hoffnung auf Wärme und Geborgenheit.

Sie liebte den Winter, die eisige Kälte und die Dunkelheit, die Vorweihnachtszeit. Sie liebte es durch den Schnee zu stapfen, wenn welcher liegen geblieben war, und die Vorfreude auf beheizte Räume und warme Getränke.

Doch dieses Jahr saß sie an diesem verschneiten Winterabend am Fenster ihres Zimmers, anstatt durch die einladende Winterlandschaft zu wandern. Sie hatte das Licht ausgemacht und beobachtete die Schneeflocken auf ihrem Weg zur Erde, wie sie wie Federn durch die Lüfte schwebten und sich dort niederließen, wo der Wind sie hintrieb. Ihre Fensterhöhle strahlte keine Hoffnung auf Wärme und Geborgenheit aus. Ihr Gedanken schwebten durch ihren Kopf, wie die Schneeflocken in der dunklen Nacht.

Da war das Jahr schon wieder vorbei. Sie war wieder ein Jahr älter geworden und damit war es ein Jahr weniger bis zu ihrem Schulabschluss. Mit den Zukunftsfragen hatte sie sich in diesem Jahr viel herum geschlagen und war doch zu keinem Ergebnis gekommen. Erstmal sollte sie ihr Abitur schaffen, doch auch ihre Noten ließen an manchen Stellen zu Wünschen übrig. Und überhaupt, alle forderten Leistungen und mal bemühte sie sich und mal nicht und mal funktionierte das eine und manchmal das andere. In ihrer Stufe war es an manchen Stellen zu einem regelrechten Wettstreit um die besten Noten gekommen und viele Niederlagen führten zu Tränen, so wie es „damals“ in der Grundschule gewesen war, wenn man mal etwas nicht so gut konnte.

Dieses ganze Theater würde sie vielleicht über die Ferien und Neujahr für einen Moment vergessen können, doch sie wusste nur zu gut, dass es sie wieder einholen würde. Schneller als ihr lieb war.

Die Schule war zum Dreh- und Angelpunkt geworden. Für die meisten zumindest.

Die Schneeflocken wurden durch eine Windböe aufgewirbelt und flogen gegen die Fensterscheibe. Dort blieben einige von ihnen für einen Augenblick kleben und fingen dann an zu schmelzen.

Sie mochte nicht zurückdenken an die Menschen, die sie dieses Jahr verloren hatte, auf welche Art und Weise auch immer. Schmerzvoll war das und es lag wie ein grauer Nebel in ihren Gedanken. Warum mussten sie gehen? Warum macht das Leben manchmal Wendungen, die man einfach nicht nachvollziehen kann? Warum wird man verletzt? Und warum bleiben am Jahresende so viele Fragen offen von deren Antworten man glaubt, dass sie einen weiterbringen?

Ein Auto fuhr die Straße entlang, durch das Schneegestöber und leuchtete mit seinen hellen Scheinwerfern in ihre dunkle Fensterhöhle.

Aber wie viele Menschen sie in diesem Jahr auch kennen gelernt hatte! Die meisten waren sehr plötzlich in ihr Leben getreten und bei manchen hatte es auch eine Weile gedauert, bis man sich vertraut war, aber trotzdem: Es waren definitiv mehr als im Jahr zuvor. Und waren es Freunde?

Sie hauchte ihren Atem an die Fensterscheibe und malte ein Herz mit dem Finger.

Das Wort Freunde benutzte sie so ungern. Denn ab wann sagt man das und wer gehörte nicht dazu? Sie nannte sie Lebensbegleiter. Denn sie hatten sie in diesem Jahr begleitet. Manche das ganze Jahr oder einige Monate, manche auch nur ein paar Tage oder Stunden. Und manche Begleitung hatte ihr gut getan und manche hatte sie zum weinen gebracht. Doch sie war froh um jede Begleitung, denn weitergebracht hatte sie wohl beides.

Eigentlich war es seltsam, und sie lächelte über sich selbst, dass man zum Jahreswechsel immer so sentimental werden konnte. Nie war ein vergangenes Jahr nur schlecht und auch nicht nur gut. Und vermutlich würde es im nächsten Jahr nicht viel anders werden. Mal ist das Gras grüner als sonst und mal regnet es mehr als sonst. Aber verändern würde sich das Leben auf jeden Fall, auch wenn man die Richtung selbst nur schwer bestimmt konnte. Und wer wusste schon, welche Lebensbegleiter sie im nächsten Jahr haben würde? Sie schmunzelte und nahm sich vor, dem neuen Jahr mir erwartungsvoller Vorfreude entgegenzutreten, auch wenn nicht alles gut werden würde. Sie wandte sich von den Schneeflocken ab, machte das Licht an und fing an sich warme Kleidung anzusehen um dann hinaus zu gehen und sich am Winterabend zu erfreuen.

Kommentare

Anonym hat gesagt…
hey,
beim Lesen habe ich festgestellt, dass vieles in meinem Leben genauso ist,wie du geschrieben hast. Es hat mich sehr zum Nachdenken angeregt...

Ich wünsche dir frohe Weihnachten und einen Guten Rutsch!:)

Gottes Segen

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