Ein Ende.

„Aber hast du nicht immer gesagt, du wärst so zufrieden mit allem?“ Das Entsetzten, das ihr ins Gesicht geschrieben stand, schmerzte ihn mehr, als er gedacht hätte. Sichtbar erschüttert, klammerte sie sich an die Armlehnen des alten Stuhls, den er von seinem Großvater geerbt hatte. „Ich weiß, dass das alles jetzt sehr überraschend kommt..“ Seine Stimme hörte sich seltsam an. „Ja, das kannst du aber glauben, dass das alles sehr überraschend kommt!“ Ihr Echo half ihm nicht weiter. „Ich muss es jetzt tun. Ich muss einfach.“ In dem Entsetzten in ihren Augen stieg Missbilligung auf. „Und es ist dir nicht in den Sinn gekommen, all das vor sagen wir einem halben Jahr sagen zu können? Einfach mal ehrlich zu sein und zu sagen: Du, das Leben, dass ich lebe, gefällt mir nicht, ich glaube, ich brauche eine radikale Veränderung! ?“ Er sah sie an und wusste, sie würde ihm nicht glauben, aber er musste es sagen: „Vor einem halben Jahr habe ich das noch nicht gewusst.“ Sie lachte laut und unpasssend und es fuhr ihm in die Knochen. „Nicht gewusst? Nicht gewusst? Und unser beider Leben einfach so benutzt ohne zu wissen, dass du was ganz anderes willst?“ Sie war aufgesprungen und hatte mit zu viel Schwung den Stuhl umgeschmissen. „Ich glaube dir nicht! Ich kann dir das nicht abkaufen! Von heute auf morgen willst du alles hinschmeißen, nur weil dir irgendetwas quer über die Leber gelaufen ist! Jetzt ist nicht die Zeit um sentimental zu werden und eine Lebenskrise anzuzetteln! Es geht nicht nur um dich! Es geht um uns und um all das, was wir uns aufgebaut haben!“ Sie stand mit wuchtelnden Handbeweungen vor ihm und Tränen standen in ihren Augen. Er wäre so gerne ruhig und besonnen geblieben, hätte so gerne auf jede Rechtfertigung verzichtet. Aber das ging jetzt nicht mehr. Jetzt war er diesen Schritt gegangen und musste weiter. „Weißt du, dass es mich genauso erschüttert wie dich?“ Seine Stimme wurde lauter. „Weißt du, dass ich genauso wenig Lust habe, all das hier aufzugeben und etwas neues anzufangen? Es geht nicht darum, dass ich heute morgen mit dem falschen Fuß aufgestanden bin oder dass ich eine vorgezogene Lebenskrise durchmache. Es geht nur um eines: Ich habe gelogen. Ich habe dich angelogen und jeden anderen. Und vor allem habe ich mich selbst angelogen. Habe behauptet, das alles hier wäre genau dass, was ich immer haben wollte. Hörst du? Ich lüge! Die ganze Zeit! Und das muss jetzt ein Ende haben! Und ganz ehrlich: Mir tut am meisten weh, dass ich mich selbst die ganze Zeit anlüge! Hier geht es um Grundlegendes. Und du hast immer gesagt, dass man auf Lügen nicht aufbauen kann. Und wenn wir jetzt so weiter machen, dann werden wir ein riesiges Lügenschloss haben, aber wir werden uns niemals darin wohlfühlen!“ Sein Stimme war laut, aber klar. Endlich konnte er Ehrlichkeit in seiner Stimme hören, auch wenn es ungewohnt klang. Ihr liefen ungehalten die Tränen übers Gesicht. Sie schluchzte nicht oder gab sonst irgendetwas von sich. Nur die Tränen des Entsetzten im Angesicht der kahlen Wahrheit konnten ausdrücken, was gerade passierte. Seine Stimme wurde wieder ruhiger. „Ich will einfach nicht mehr so weiter machen. Ich weiß, das Leben hat Höhen und Tiefen. Aber die will ich erleben. Ich will nicht in einem Sumpf der Gleichgültigkeit ersticken, weil ich abgestumpft bin und nicht mehr weiß, was wirklich in mir steckt.“ Sie schaute zu Boden, unfähig ihn anzusehen, als sie sagte: „Ich liebe dich.“ Sie sagte das so leise, so sehr aus einem inneren Impuls, ohne Manipulation, ohne Forderung. Sie sagte einfach die Wahrheit. „Ich liebe dich auch.“, sagte er und die Wahrheit blieb in seiner Stimme. „Ich möchte in Wahrheit leben. Und dich lieben.“ Er schlang seine Arme um sie, hielt sie viel fester als nötig und ihr weinender Köper bebte. „Ich will nicht mehr lügen.“, flüsterte er ihr immer wieder in Ohr und sich selbst ins Herz. „Ich will nicht mehr lügen. Ich will leben.“
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Anregung zu diesem Text: "Imagine someone who tells a lie to himself and others. What would happen if he stopped?"

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